„Die Gesellschaft“ und „Ich“

„Die Risikogesellschaft“, „Die prozedurale Gesellschaft“, „Die Gesellschaft der Singularitäten“, „Die Externalisierungsgesellschaft“ etc. Solche Titel unterstellen, dass die gegenwärtige Unübersichtlichkeit unter den Menschen von der Soziologie noch auf den Begriff „der“ Gesellschaft gebracht werden könne. Weil solche Beschwörung beim Publikum gut ankommt, sei hier die „Bekenntnisgesellschaft“ ausgerufen.
In der schwer überschaubaren Ansammlung von Diversitäten, Minoritäten, Majoritäten, Andersartigkeiten; und umgeben von so viel Zufälligem (Nicht-Notwendigem) wird das Aussprechen von dem, was ich zu sein glaube, zu einem Akt der Beschwörung dessen, von dem ich möchte, dass es durch solche Wortmagie zu einer positiven Tatsache werde, die der Zufälligkeit enthoben und zugleich etwas Besonderes wäre. Die Selbstbekräftigung soll mich auch hinausführen aus der schlechten Unendlichkeit dauernder Selbstreflexion. Bin ich das? Ja, das bin ich. Aber soll ich das wirklich glauben?
Na ja, das Bekenntnis tut jedenfalls gut, und so lautet es denn: „Ich bin ein männlicher, weißer, heterosexueller, lutherischer Protestant gesetzten Alters mit vedantischen Anwandlungen. Weitgehend ernähre ich mich vegetarisch, bin aber dennoch kein Impfskeptiker; lebe ein wenig gesundheitsbewusst, bin aber auch Gelegenheitsraucher; besitze ein Auto, fahre aber meistens Fahrrad; bin gegen das Gendern, aber kein Maskulinist usw. usw.“
Schon höre ich die Stimme: „Was für eine Inkonsequenz! Dieses absolut durchschnittliche Verhalten ist erklärungsbedürftig“ – womit wir von der Bekenntnis- zur Rechtfertigungsgesellschaft gelangt sind.