März 2020
Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung dienen könne. Auch wenn man Kants Imperativ nicht präsent hatte, war einem seit einiger Zeit nicht ganz geheuer: Die Mobilität von Dingen und Personen, der Jetset des touristischen Weltkonsums, der ständig beschleunigte Fluss von Material, Energie, Informationen und Menschen rund um den Globus, die wachsenden Interdependenzen bei wachsendem Ressourcenverbrauch, und ich selbst immer mittendrin. Auch ohne Kantgedanken konnte sich ein mulmiges Gefühl bemerkbar machen. Das ist zu viel, das ist fragil, das geht nicht gut. Denn die westliche Maxime der Maximierung kann schon aus ökologischen Gründen unmöglich zum Prinzip einer imaginären Weltgesetzgebung dienen. Weil aber der Geist willig, das Fleisch hingegen schwach ist, hat der Weltgeist in seiner bekannten Listigkeit auf indirektem Wege eine Störung des szientifisch-ökonomisch-industriellen Komplexes mit einem Virus in Gang gebracht. Corona hat dem Globus eine Erholungs- und der Krone der Schöpfung eine Nachdenkpause ermöglicht. Selbige ließ mich erkennen: Die Verflüssigung und die Verfügbarkeit von Allem und Jedem zu jeder Zeit führen zu einer Ent-Rhytmisierung des Lebens, zum Verlust der lebensweltlichen Grundlagen des Substanzbegriffs, zur Ent-Ortung und Un-Präsenz des Daseins zugunsten bloßer Steigerung. Das ökonomische Sein unserer Lebenswelt hat u.a. den Anti-Essentialismus zum hegemonialen Bewusstsein werden lassen und den Buddhismus so attraktiv. Der lehrt schon seit 2500 Jahren die Substanzlosigkeit von dem erwähnten Allem und Jedem, also auch der hier vorgetragenen Gedanken.
Was aber ist mit der Natur? Form und Gestalt gehören ebenso zum Leben wie ihre Auflösung. Brahma (Schöpfer), Vishnu (Erhalter), Shiva (Zerstörer). Vielleicht kann man darüber hinaus: Über die Wolken, jenseits von Raum und Zeit, und vielleicht: Jenseits von Gut und Böse: Brahman. Wir sollten allerdings realisieren – d.h. existentiell und körperlich einsehen – dass wir von der Natur so abhängig sind wie alle Generationen vor uns. Unsere Abhängigkeit von der Technologie verstellt die Tatsache der wieder elementarer werdenden Naturabhängkeit. Das Anhalten des Atems lehrt mich: Ich brauche die Luft genauso wie schon der ausgestorbene Neandertaler. Unsere Abhängigkeit von Wasser, Luft, Erde und Sonne ist so groß wie vor der industriellen Revolution, und das Anthropozän ist keine soziale Konstruktion, die sich mit der bekannten Lust an der Entlarvung so dekonstruieren ließe wie so manches Andere in der sozialen Welt. Die Hier-und-Jetzt-Meditation kann vielleicht die Non-Dualität jenseits aller Dualitäten, das Formlose jenseits der Form erfahrbar werden lassen. Irgendwann muss ich aber wieder essen, trinken und den Computer einschalten. Außerdem möchte ich mich an meinen Mitwesen freuen, auch wenn sie mir nicht nützen.
Karma und Caritas
Indras Netz ist ein Bild der indischen Mythologie für die unendlichen Kausalitäten und die Verflochtenheit der Welt. Für unsere aktivistische Weltsicht ist schwer nachvollziehbar, dass ein Grundkonflikt in der Bhagavadgita sich um die Frage dreht, ob es besser ist zu handeln oder nicht zu handeln – weil jedes Handeln Auswirkungen in der Welt hat, vor allem auf den Handelnden selbst. Die Lust am Erfolg macht vom Erfolg abhängig, während es nach (alt)indischer Sicht um Befreiung aus den Abhängigkeiten und dem ewigen Kreislauf gehen soll. Das Gesetz der Kausalität (Karman), die Kausalitätsketten und die Bedingtheit aller Erscheinungen wird einem jetzt durch die Ansteckungsketten vor Augen geführt. Man steht in Österreich an der Theke, holt sich das Virus und verbreitet es unwissend. Die Infektion erfolgte im Schnittpunkt zahlreicher Kausalitätsketten und setzt wiederum andere Kausalitätsketten in Gang. Beide Richtungen führen in eine unüberschaubare Komplexität – letztlich in eine innerweltliche Unendlichkeit in Vergangenheit und Zukunft. Und das gilt für jedes Ereignis und für jede Handlung. Kontingenz? Determiniertes Schicksal? Ich stecke auf mittendrin und halte mir auf jeden Fall übertrieben viel zugute.
Unsere Staatsorgane haben die soziale und ökonomische Interaktion unterbrochen und helfen, Leben zu retten – und zwar vorwiegend das der Alten, Kranken und Schwachen. Sars-CoV-2 ist ja viel selektiver als Pest und Cholera, die jedes Alter getroffen haben. Der ethische Hintergrund für die Staatsaktion ist vermutlich in der christlichen Tradition zu finden, weil es in anderen Religionen vergleichbare Institutionen der Fürsorge nicht gegeben hat. Caritas ist nicht nur mitfühlend, sondern auch aufgeklärt und weiß, wie man Beatmungsgeräte konstruiert und einsetzt. Das kostet Geld, und der Stillstand des Wirtschaftslebens kostet noch viel mehr wegen der ökonomischen Kausalitätsketten. Weil man im Lande Darwins und der utilitaristischen Ethik lange Zeit auf den natürlichen Gang der Dinge bei der Entstehung von Herdenimmunität vertraut hatte, wird das die dortigen Kranken- und Rentenkassen erheblich entlasten und zur Verjüngung der Herde führen. Das nützt der Generation Greta. Die steht ja vor einer globalen Erbschaft aus Handlungen früherer Generationen, die sie nicht ausschlagen kann, und demnächst vor einem gewaltigen Schuldenberg, den sie nicht angehäuft hat. Handeln hat Konsequenzen, Nichthandeln auch. Wir haben uns für die Caritas entschieden – und verfolgen hoffentlich Gretas Anliegen umso entschiedener.
Mai 2021
Dem Vorstehenden ist nur hinzuzufügen, dass weder Großbritannien noch sonst irgendein Land konsequent auf eine Verjüngung der Herde durch das Virus gesetzt hat. Um so deutlicher stellt sich heraus, dass es vor allem Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene sind, die dafür besondere Opfer gebracht haben.